HFV-Präsident Stefan Reuß über die Zukunft nach Corona und den Krach an der DFB-Spitze
Stefan Reuß sitzt in seinem Büro der Kreisverwaltung in Eschwege zum Video-Gespräch mit Jan Christian Müller. Der SPD-Politiker ist seit fünf Jahren Präsident des Hessischen Fußball-Verbandes (HFV). Der 50-Jährige weiß, wovon er spricht. Nach seiner aktiven Spieler- karriere pfiff er als Schiedsrichter in der seinerzeit drittklassigen Re- gionalliga und attestierte zwei Spielzeiten lang in der Zweiten Bundesliga an der Linie.
Herr Reuß, was ist gerade los auf Hessens Fußballplätzen?
Leider viel zu wenig. Wir würden uns viel mehr Betrieb dort wünschen.
In Hessen durften die Kinder bis einschließlich 14 Jahren noch wochenlang in beliebiger Gruppengröße trainieren, als das in Bayern schon längst verboten war. Wie sieht es aktuell aus?
Das ist durch die Bundesnotbremse bei einer Inzidenz von über 100 eingeschränkt worden. Die Gruppe darf fünf Kinder nicht mehr überschreiten. Dabei können auf weitläufigen Sportanlagen auch mehrere Gruppen trainieren, wenn die Flächen ganz eindeutig und nachhaltig voneinander abgegrenzt sind. Es dürfen jedoch nur noch Kinder unter 14 Jahren trainieren. Ein Jahr wurde den Kindern also abgezogen.
Nutzen die Vereine das, zumal zusätzlich die Betreuer und Betreue- rinnen einen Negativ-Test vorweisen müssen?
Im Jugendbereich versuchen viele Vereine das zu organisieren. Aber es hängt natürlich davon ab, was die Trainer sich zutrauen und auch, was die Eltern gewillt sind, zuzulassen. Da gibt es sehr unterschiedli- che Auffassungen.
Wie sehen Sie es?
Da wir mittlerweile flächendeckend Testzentren zur Verfügung haben und mit dem Impfen vorankommen, sehe ich gute Chancen, Training und Spielbetrieb in absehbarer Zeit wieder möglich zu ma- chen. Außerdem sprechen wir über Freiluftsport, das muss auch mehr in den Fokus gebracht werden.
Manche Amateurvertreter sagen, der Fußball brauche eine lautere Stimme. Sehen Sie das auch so?
Diese etwas lautere Stimme wünsche ich mir vor allem, um darauf hinzuarbeiten, dass wir einheitliche Regelungen im ganzen Fußball- land bekommen. Wenn man, so wie ich, im Dreiländereck Thüringen, Niedersachsen und Hessen wohnt und alles im Umkreis von zehn Kilometern vor der Haustür hat, dann erkennt man die Proble- me: Auf dem einen Sportplatz darf gespielt werden, auf dem anderen darf es nicht und beim dritten überlegt man noch. Auch, was die Spielklassen-Regelungen angeht, wäre ein bundeseinheitliche Regelung wichtig gewesen. Ich habe es immer wieder angemahnt. Vergeblich.
In Hessen sind die Amateurligen beendet worden. Herrschte darüber nahezu Einigkeit?
In den höchsten Spielklassen steht die Entscheidung formal noch aus, weil wir warten wollten, wie die übergeordneten Ligen entscheiden. Grundsätzlich haben wir, was den Abbruch der Saison angeht, viel Zustimmung erfahren. Es gab auch Stimmen, die eine schnellere Entscheidung wollten. Wir waren aber der Meinung, es könnte sich lohnen, abzuwarten, solange noch ein bisschen Hoffnung da war. Und es gab auch einige Meinungen, die die Ligen über den Sommer hinaus fortsetzen wollten.
Aus der Hessenliga, in der nur zwölf Spieltage bis zum bevorstehen- den Abbruch ausgetragen wurden, soll laut Beschluss der Regionalliga kein Verein aufsteigen dürfen. Sind Sie einverstanden?
Die Regionalliga Südwest hat durch ein Rechtsgutachten entschieden, dass Aufsteiger zumindest 50 Prozent ihrer Spiele absolviert ha- ben müssten. Das ist im Moment nicht erfüllt. Der Lotto-Hessenliga- Tabellenführer SG Barockstadt Fulda-Lehnerz klagt dagegen, das müssen wir jetzt abwarten.
Schieben viele Klubs wegen der langen Corona-Pause nun Probleme vor sich her?
Für manchen Verein wird es schwer, sich am Leben zu erhalten. Ge- rade die, die eigene Vereinsanlagen haben, haben wirtschaftliche Probleme bekommen und sind auf öffentliche Zuschüsse angewiesen. Da machen wir uns nichts vor. Das ist so.
Wo drückt noch der Schuh?
Der Landessportbund hat gerade bekanntgegeben, dass im Kinderbereich bis sechs Jahren dem Sport insgesamt bis zu 17 Prozent Mitglieder verloren gegangen sind. Das sehen wir auch bei uns. Ein zusätzliches Problem könnten die Ehrenamtlichen werden. Wir haben aber auch hoffnungsvolle Rückmeldungen bekommen. Viele sagen: „Wir schaffen das. Wir halten durch.“
Normalerweise sperren Kommunen im Sommer die Fußballplätze. Stellen Sie sich da in diesem Sommer mehr Flexibilität vor?
Ich glaube, da gibt es in diesem Jahr die Bereitschaft zur hohen Flexibilität, weil die Kommunen schon anerkennen, dass es einen extremen Nachholbedarf gibt.
Wie stellen Sie sich die kommende Saison vor? Ganz normal?
Ich glaube nicht, dass sie normal werden wird. Sie wird nach wie vor unter dem Eindruck von Corona stehen. Deshalb sollten wir sehr flexibel planen. Wenn man den medizinischen Fachleuten zuhört, könnte es im Herbst trotz der Impfungen noch einmal schwierig werden, auch, weil bei vielen dann der Impfschutz schon wieder rückläufig sein wird.
Wie kann der Verband darauf reagieren?
Etwa, indem wir schauen, ob wir nicht besser mit geteilten Spielklassen in die neue Saison gehen, dadurch weniger Spiele absolvieren, zeitlich flexibler sind und am Ende Play-offs und Playdowns spielen. Das so zu organisieren, könnte hilfreich sein, falls wir zwischendurch doch mal wieder mehrere Wochen unterbrechen müssen, weil Corona-Fälle auftreten.
Kommen wir zum Deutschen Fußball-Bund. Dort tun sich seit Monaten Abgründe auf. Von außen betrachtet wäre es begrüßenswert, wenn die gesamte Führungscrew den Platz räumen würde. Warum sehen die Landesverbände das anders und wollen vor allem den Präsidenten Fritz Keller nach dessen Vergleich mit dem Nazi- Blutrichter Roland Freisler loswerden?
Wir haben uns zu der Personalie Fritz Keller und dessen unsäglicher Aussage am Freitag nochmals sehr deutlich positioniert. Da wurde nach unserer Ansicht eine Schwelle überschritten, die ein DFB- Präsident nicht überschreiten darf. Wir bleiben deshalb auch bei dem Vertrauensentzug und fordern ihn zum Rücktritt auf (Anmerkung der Redaktion: Das Interview wurde vor Kellers gestern Abend erklärtem Verzicht auf sein Amt geführt).
Das DFB-Gesamtbild ist aber auch mit Kellers Demission noch immer sehr unschön . . .
Aus meiner Sicht sind zwei Dinge wichtig. Erstens: Alles, was kolportiert, erzählt und berichtet wird, muss transparent auf den Tisch. Da- zu gehört die Vertragsauflösung mit dem Vermarkter Infront, dazu gehört die Arbeit der Firma Esecon und dazu gehört noch immer auch der Sommermärchen-Skandal. Dafür gibt es Gremien im DFB, die genau das tun, beispielsweise einen Prüfungsausschuss.
Und zweitens?
Zweitens müssen wir uns fragen: Wie richten wir uns für die Zukunft aus? Die 2019 beim DFB-Bundestag beschlossene Ausgliederung des wirtschaftlichen Geschäftsbetriebs auf die GmbH ist noch nicht ab- geschlossen. Zudem ist das Verhältnis der Amateure zu den Profis in den entscheidenden Gremien nicht sauber geklärt. Also: Wer entscheidet was und wo muss man die Kompetenzen des anderen achten?
Also vor allem die Kompetenzen der Amateure?
Es gibt natürlich auch Bereiche, da haben die Amateure nicht mitzureden. Aber als die DFL gegründet wurde, hat man sie seinerzeit quasi wie einen 22. Landesverband im DFB aufgenommen. Ob das so funktionieren kann? Ich bin da skeptisch. Derzeit sitzen stets zwei Vertreter der DFL in den Gremien des DFB unterhalb des Präsidiums. Ob das so zielführend ist, bezweifle ich. Das sollte man zumindest kritisch überprüfen. Wenn in diesen Gremien reine Amateurfragen diskutiert werden – warum sollten die Profis dann mitreden?
Wie könnte das gelöst werden?
Ich könnte mir eine Dachholding DFB/DFL vorstellen, wo Profis und Amateure die Schnittstellen-Themen bearbeiten, darunter befinden sich zwei Säulen: der DFB als Amateurverband und die DFL als Profi- verband, die gemeinsam das Dach tragen.
Was sind denn die Schnittstellen-Themen? Beispielsweise die Nationalmannschaft, aber auch die Nachwuchs- Auswahlmannschaften und die neue Akademie. Da stellt sich schon die Frage: Ist die allein für die Profis da oder auch für die Amateure?
Hegen Sie den Verdacht, dass dieses von Oliver Bierhoff besonders vorangetriebene 150-Millionen-Euro-Projekt zu sehr auf den Elite- Fußball ausgerichtet ist?
Ich habe den Eindruck, dass noch vieles geklärt werden muss und wir gerade auch in der Akademie dem Amateurfußball eine zentrale Rolle zukommen lassen sollten. Der Profifußball hat ja schon seine Nachwuchsleistungszentren. Dort ist bekannt, welche Spieler die Klubs wo und wann abholen wollen. Zur Aufgabe des Amateurfußballs gehört es auch, dass diejenigen Jugendlichen, die gute Talente sind, aber den letzten Schritt in den Profibereich nicht schaffen, trotzdem dem Fußball erhalten bleiben. Folglich dürfen auf keinen Fall Doppelstrukturen entstehen.
Gehen da zu viele verloren?
Ich sehe an unseren Stützpunkten viele Spione größerer Vereine, die die Eltern ansprechen und geradezu heiß auf einen Wechsel ihres Kindes machen. Oft ist es dann so, dass sich schon nach zwei Jahren herausstellt: Die Kinder schaffen den großen Sprung nicht. Und dann stellt sich die Frage: Hören diese Kinder mit dem Fußball auf, möglicherweise, weil sie sich schämen, zu ihrem Heimatverein zu- rückzukehren, oder weil sie enttäuscht und geknickt sind, obwohl sie vielleicht exzellente Oberliga- oder Regionalligaspieler werden könnten? Das zu verhindern, darin sehe ich auch eine Aufgabe der Akademie im Zusammenspiel mit den Landesverbänden.
Wie soll das in der Umsetzung aussehen?
Etwa, indem wir die Trainer sehr intensiv darauf schulen, den Blick zu schärfen, dass uns diese Kinder nicht verloren gehen.
Hat der von der Bundesliga scharf attackierte DFB-Vize Rainer Koch noch Ihren bedingungslosen Rückhalt?
Es gab dazu eine geheime Abstimmung. Da hat er eine klare Mehrheit bekommen.
Koch will von der Bundesliga mehr Geld, es sei noch „kein Cent“ geflossen. Hat er Recht mit dem, was er Samstag im Sportstudio verlangte?
Wir Landesverbände bekommen von den Bundesligisten gemäß Grundlagenvertrag Anteile an den Eintrittsgeldern der Bundesliga- spiele. Die fallen wegen der Pandemie und der nicht vorhandenen Zuschauer aber weg. Wir haben deshalb vergangenes Jahr eine Vereinbarung mit der DFL geschlossen, dass es entsprechende Kompensationszahlungen gibt, die die Landesverbände dringend zur Finanzierung benötigen. Einige Landesverbände gehen gerade in der Liquidität ganz schön in die Knie, weil sie seit Dezember keinerlei dieser Mittel von der DFL mehr bekommen haben. Es gibt momen- tan keine neue Vereinbarung zwischen DFL und Amateuren, wie da- mit umgegangen werden soll.
Um welche Größenordnung handelt es sich dabei für den Hessischen Fußball-Verband?
Wir reden da schon über einen ordentlichen sechsstelligen Betrag. Das ist für einen Landesverband wie unseren richtig viel Geld.
Wie geht es dem Verband?
Wir sind noch recht gut durch die Krise gekommen, auch, weil wir ein Fundament in den vergangenen Jahren gegossen haben. Darauf bin ich sehr stolz. Aber mit unserer Sportschule und dem Sporthotel in Grünberg haben wir auch einen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb. Diesen können wir nicht auf Dauer aufrechterhalten, wenn nicht zeitnah wieder Gelder fließen.
Welche Rolle soll künftig ein DFB-Präsident innehaben?
Er sollte wie ein Aufsichtsrat agieren und sich aus dem operativen Geschäft raushalten. Das wäre ein vernünftiger Weg, der gelebt wer- den muss.
Könnte der neue Präsident auch eine Präsidentin sein?
Wenn sich eine gute Frau findet, hätte ich überhaupt kein Problem damit.
Es gibt Leute im Verband, die sich Sie, Herr Reuß, gut als neuen Präsidenten vorstellen könnten.
Ich?
Ja genau. Würden Sie sich das zutrauen oder haben Sie gar eigene Ambitionen?
Ich habe überhaupt keinerlei eigene Ambitionen. Würden Sie sagen: Das Amt ist mir zu gefährlich?
Wer mich kennt, weiß, dass ich mich selten vor Herausforderungen scheue. Aber man sollte sie nur eingehen, wenn man sicher ist, dass man die Veränderungen, die notwendig und Strukturen die erforderlich sind, auch durchsetzen kann.
Quelle; FNP vom 12.05.2021


